BVerfG setzt Zeichen gegen Hasskriminalität
Das Bundesverfassungsgericht hatte sich kürzlich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen ein strafrechtliches Urteil mit der immer wieder auftretenden Frage nach dem Verhältnis zwischen Meinungsfreiheit und dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht auseinandergesetzt. Dabei wurde in aller Deutlichkeit klargestellt, dass die Meinungsfreiheit bei Hasskriminalität bzw. Hate-Speech im Internet im konkreten Fall hinter das Allgemeine Persönlichkeitsrecht zurückzutreten hat (BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 -, Rn. 1-46).
Verurteilung wegen Beleidigung nach Hetze in einem Internetblog
Der Beschwerdeführer ist bereits mehrfach wegen Beleidigung vorbestraft und hatte vor einigen Jahren einen Sorgerechtsstreit mit seiner ehemaligen Partnerin um die gemeinsame Tochter vor Gericht ausgetragen. 2012 wurde ihm dann das Umgangsrecht entzogen, woraufhin der Beschwerdeführer ein Jahr später einen Internetblog erstellte und öffentlich zugänglichmachte. In diesem zum Zeitpunkt der strafgerichtlichen Verurteilung 450 Einträge umfassenden Blog schilderte er das familienrechtliche Verfahren aus seiner Sicht und stellte sich selbst als Opfer der Justiz dar, die vermeintlich planmäßig gegen ihn arbeitete.
Seine Verschwörungstheorie spitzte sich letztlich im Jahre 2016 zu, nachdem das Urteil betreffend das Umgangsrecht durch das OLG Bamberg endgültig bestätigt worden war. Er veröffentlichte die drei streitgegenständlichen Posts, in denen er die befassten Richter und den Präsidenten des OLG Bamberg verbal angriff sowie seine Äußerungen mit öffentlich zugänglichen Bildnissen untermauerte.
Im ersten Post äußerte der Beschwerdeführer den „Tatverdacht struktureller Korruption in einem Netzwerk bayerischer Justizjuristen“, die einen „Umgangsboykott“ anführen sollen. Außerdem handele es sich um eine „asoziale (…) parteipolitisch verseuchte Justiz“, deren Senat auf Geheiß des Präsidenten des OLG Bamberg „offenkundig massiv rechtsbeugend agiere“. Jener Präsident sei überdies nach Auffassung des Beschwerdeführers „rechtsradikal“.
Der zweite Beitrag enthielt Sensationszeilen wie „Rechtsradikale in der Justiz“, „strukturelle Korruption“, „Straftaten im Amt“ und trug die Überschrift „Justizverbrecher und Hauptakteure“. Im Post waren Bildnisse sowie eine Liste mit Namen der „Täter“ bzw. „Verantwortlichen“ und „Justizverbrecher“ zu erkennen.
Der dritte Post trug die Überschrift „Asozialer Justizverbrecher und Kindesentfremder (…) weiter durch Täterumfeld OLG Bamberg gedeckt: Klageerzwingung und weitere Strafanzeige“. Die Aussage bezog sich auf den Vorsitzenden des OLG Senats und wurde durch Bildnisse vom entscheidenden Senat sowie vom Präsidenten des OLG Bamberg ergänzt. Der Beschwerdeführer beschrieb sie als „Justizverbrecher“ und „Drahtzieher“ von Verbrechen und Vertuschungen im Amt. Er warf den abgebildeten Personen überdies vor, Rechtsbeugung zu praktizieren. -Und zwar, um ihn in den Suizid zu treiben.
Das Amtsgericht Stuttgart-Bad Cannstatt verurteilte den Beschwerdeführer auf dieser Grundlage wegen 4 tateinheitlicher Beleidigungen in 3 Fällen zu einer Geldstrafe (vgl. AG Stuttgart-Bad Cannstatt, Urteil vom 19.09.2017, Az.: 6 Cs 7 Js 67767/16).
Berufung: Keine Schmähkritik, aber ein die Meinungsfreiheit zurücktreten lassender Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht
Das Berufungsgericht schloss sich im Wesentlichen der Vorinstanz an und wies die Berufung ab (vgl. LG Stuttgart, Urteil vom 20.05.2019, Az.: 40 Ns 7 Js 6776/16).
Es erkannte in den Äußerungen des Beschwerdeführers keine Schmähkritik, da der Auslöser, also der Verlust des Umgangsrechts zur Tochter, nachvollziehbar „eine schwere emotionale Situation“ darstelle.
Doch was ist eigentlich unter Schmähkritik oder auch Schmähung zu verstehen? – Das BVerfG definiert sie so: „Bei einer herabsetzenden Äußerung ist erst dann der Charakter einer Schmähung gegeben, wenn in ihr nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Sache, sondern die Diffamierung und Herabsetzung der Person im Vordergrund steht“ (vgl. BVerfG, Entscheidung vom 17.12.2002, Az.: 1 BvR 755/99).
Eine Formalbeleidigung erkannte das LG Stuttgart genauso wenig; stellte jedoch fest, dass die Äußerungen des Beschwerdeführers in erheblichem Maße die Ehre und berufliche Integrität der Mitglieder des Senats und des Präsidenten des OLG Bamberg angegriffen haben.
Auch ist die Schwelle von Polemik zur Schmähkritik grundsätzlich sehr schmal: Das LG Stuttgart erkannte zwar, dass nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Sache, sondern die Herabsetzung der angegriffenen Personen im Vordergrund stand. Es handele sich auch nicht um ein Kundtun von Meinungen, die vermeintliche Verbrechen im öffentlichen Dienst aufdecken bzw. thematisieren sollen. Gleichwohl erkannte es an, dass der sachliche Bezug noch gegeben war und bezog die schwere emotionale Situation bei der Bewertung mit ein. Dennoch sei die Grenze zur Wahrnehmung berechtigter Interessen seitens des Beschwerdeführers deutlich überschritten worden.
Das OLG Stuttgart schloss sich der Entscheidung an und verwarf die Revision als unbegründet (vgl. OLG Stuttgart, Urteil vom 27.09.2019, Az.: 1 Rv 24 Ss 879/19).
BVerfG: Verfassungsbeschwerde wegen gerechtfertigten Eingriffs in die Meinungsfreiheit unbegründet – Die Rolle des Gesetzesvorbehalts aus
Art. 5 Abs. 2 GG
Abgesehen davon, dass die Verfassungsbeschwerde teilweise unzulässig war, weil der Beschwerdeführer neben den Urteilen der drei Instanzen auch noch den Strafbefehl des AG Stuttgart-Bad Cannstatt gerügt hatte, nahm das BVerfG die Beschwerde nicht zur Entscheidung an, da diese auch noch „offensichtlich unbegründet“ war.
Die Verurteilung greife zwar unstreitig in das Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG ein, der Eingriff sei jedoch gerechtfertigt und auch verhältnismäßig.
An dieser Stelle muss ein Umstand geklärt werden, dessen sich so mancher womöglich nicht bewusst ist: Ja, in die verfassungsrechtlich verankerten Grundrechte kann eingegriffen werden. Die einzige Ausnahme bildet dabei Art. 1 GG, der die Menschenwürde für unantastbar erklärt.
Die Verfassung steht zwar im Rang über den einfachen Gesetzen, daraus folgt jedoch nicht, dass die Grundrechte uneinschränkbar sind.
Einschränkungen bzw. sog. „Schranken“ können Grundrechte in anderen Grundrechten, also im Kollisionsfall, finden. Man spricht in diesem Zusammenhang von verfassungsimmanenten Schranken. In Art. 5 Abs. 2 GG ist jedoch ganz explizit ein Gesetzesvorbehalt enthalten:
„Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutz der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.“
Auf den vorliegenden Sachverhalt bezogen, ergeben sich nun zwei Schranken: Einmal die verfassungsimmanente Schranke durch die Kollision mit dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dann noch der Gesetzesvorbehalt durch Tatbestandsverwirklichung des § 185 StGB.
Das BVerfG bezog sich auf den Gesetzesvorbehalt, da dieser die Grundlage für die strafgerichtlichen Verurteilungen bildete und hat dann die kollidierenden Grundrechte und die drohenden Beeinträchtigungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung gegeneinander abgewogen.
Es führte eingangs aus, dass im Vorfeld einer strafgerichtlichen Verurteilung wegen Beleidigung der Sinn und Zweck hinter den streitgegenständlichen Äußerungen ermittelt werden müsse. Kleine Wiederholung an dieser Stelle: Es gibt im Grunde vier Kategorien von Äußerungen, die bei der Prüfung des § 185 StGB eine Rolle spielen. Das sind:
- Formalbeleidigungen
- Schmähkritik
- Äußerungen, die die Menschenwürde angreifen
- Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen.
Die letzte Kategorie ist die, die durch Art. 5 GG geschützt wird und bei deren Vorliegen eine Verurteilung wegen Beleidigung grundsätzlich ausgeschlossen ist.
Ist allerdings unklar, ob eine Äußerung den übrigen drei Kategorien zuzuordnen ist, muss laut dem BVerfG nach dem Sinn und Zweck dahinter gefragt werden. Kommt man zu dem Schluss, dass eine Äußerung die Menschenwürde verletzt, ist die Prüfung sogleich beendet. Der Grund dafür ist die oben bereits erwähnte Unantastbarkeit der Menschenwürde gem. Art. 1 GG.
Bei scheinbaren Formalbeleidigungen muss nicht zwangsläufig der Tatbestand des § 185 StGB erfüllt sein, wie der Fall Künast beweist (vgl. KG Berlin, Urteil vom 11.03.2020, Az.: 10 W 13/20). – Auch dann kommt es auf einen möglichen Sachzusammenhang an, obwohl das BVerfG in der vorliegenden Sache von einer „isolierten Betrachtung eines einzelnen Begriffs“ ausgeht.
Die Kategorie der Schmähkritik ist allerdings die kniffligste, da dort wirklich tief nach der Intention geforscht werden muss. Zu Erinnerung: Schmähungen zeichnen sich dadurch aus, dass die herabsetzende Äußerung nicht mehr der Auseinandersetzung mit der Sache dient, sondern mit ihr vordergründig die andere Person diffamiert werden soll. Es handelt sich also nicht um einen bloßen Steigerungsbegriff, der eine besondere Intensität bzw. Schwere der Ehrbeeinträchtigung beschreiben soll. Nein, es ist nach dem Motiv gefragt.
Konkret auf die streitgegenständlichen Äußerungen bezogen, überprüfte das BVerfG diese auf ihre Natur und den Sinn. Es schloss schnell aus, dass die Begriffe „Justizverbrecher“ und „Rechtsbeuger“ Formalbeleidigungen darstellen, da diese durchaus sachliche Kritik ausdrücken könnten. Die Menschenwürde wurde nicht erwähnt, doch ein Angriff auf diese fällt offensichtlich weg.
Zu der Frage, ob es sich bei den streitgegenständlichen Posts um Schmähkritik handelte, führte das BVerfG aus, dass die Annahme naheliegt, die „vorherige Auseinandersetzung (Anm.: der Sorgerechtsstreit) sei erkennbar nur zum Anlass genommen worden, um über eine andere Person herzuziehen oder sie niederzumachen“ und dass dies „im Schutz der Anonymität des Internets (…) grundlos aus verwerflichen Motiven wie Hass- oder Wutgefühlen“ geschah.
Allerdings schließt das Gericht sich weitestgehend der Argumentation des LG Stuttgarts an, das Schmähkritik wegen der nachvollziehbaren schweren emotionalen Situation ausschließt, da die streitgegenständlichen Posts letztlich nur wegen der vorherigen Auseinandersetzung veröffentlicht wurden. Im weitesten Sinne könne bei den streitgegenständlichen Äußerungen von Polemik gesprochen werden, welche von Art. 5 GG geschützt ist und somit gegen das Allgemeine Persönlichkeitsrecht der Betroffenen abgewogen werden musste.
BVerfG entwickelt neue Kriterien für die Güter- und Interessensabwägung im Kollisionsfall von Meinungsfreiheit und Allgemeinem Persönlichkeitsrecht
Das BVerfG hatte also bestätigt, dass es sich vorliegend nicht um Schmähkritik handelte und musste nun als „Hüterin der Grundrechte“ prüfen, ob bei den gerügten Urteilen die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG verkannt wurde. Um zu erkennen, ob im Rahmen der Güter- und Interessensabwägung die Meinungsfreiheit zu unrecht eingeschränkt wurde, entwickelte das BVerfG (teilweise) neue Prüfungskriterien:
- Wie weitreichend und tief ist der konkrete ehrschmälernde Gehalt?
- Zielt die Äußerung darauf ab, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten?
- Ist das besondere Schutzbedürfnis der in einem demokratischen Staat unverzichtbaren Machtkritik verkannt worden?
- Wurde die Äußerung ad hoc aus einer hitzigen Situation heraus geäußert?
- Wie weit ist der Verbreitungs- und Wirkungsgrad der Äußerungen?
Zum vorliegenden Fall erklärte das BVerfG, dass der konkrete ehrschmälernde Gehalt schon allein deshalb sehr hoch sei, weil neben der Verletzung der persönlichen Ehre noch die berufliche Integrität angezweifelt wurde.
Nach der Auffassung des BVerfG dienten die Äußerungen nicht dazu, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, da die drei streitgegenständlichen Posts einem persönlichen Rachefeldzug dienten.
Es hielt fest, dass in den gerügten Urteilen der gesamten Vorgeschichte und den Hintergründen der Äußerungen genügend Rechnung getragen worden sei und dass schließlich nicht alle 450 Posts beanstandet wurden, sondern nur jene drei Beiträge. Die übrigen, annähernd sachlich formulierten Posts, könnten zwar einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung begründen; sie würden jedoch nicht den beleidigenden Charakter der drei streitgegenständlichen Posts schmälern.
Der Prüfungspunkt, nach welchem Machtkritik als Ausformung einer demokratischen Gesellschaft und eines demokratischen Staates nicht verkannt werden darf, greife vorliegend nicht. Es handele sich nicht um einen „Kampf um das Recht“, da das sachliche Anliegen von den Kränkungen überlagert werde. Außerdem dürften die Persönlichkeitsrechte der angegriffenen Personen nicht unterlaufen werden oder ins Leere gehen, bloß weil sie im öffentlichen Dienst stehen und damit die Rolle des Staates einnehmen.
Die Äußerungen seien auch nicht ad hoc veröffentlicht worden, da sie nicht in den zeitlichen Rahmen der vorherigen Auseinandersetzung fielen. Überdies sind die Posts wiederkehrend veröffentlicht und offensichtlich geplant worden, wie man an den extra herausgesuchten Bildnissen erkennen könne.
Schließlich wurde der Verbreitungsgrad als unbestimmt eingestuft, da es sich um einen der Öffentlichkeit zugänglichen Blog handelte.
Das BVerfG stellt abschließend fest, dass in den gerügten Urteilen und in der damit verbundenen Entscheidungsfindung die eben aufgeführten Maßgaben genügend beachtet wurden, sodass das Grundrecht des Beschwerdeführers auf Meinungsfreiheit in seiner Bedeutung und Tragweite nicht verkannt wurde. Die Beeinträchtigung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts wog vorliegend also schwerer, weshalb die Meinungsfreiheit zurücktreten musste.
Was ist das Fazit dieser Entscheidung?
- Hate-Speech bzw. die sog. Hassrede im Internet kann einen rechtswidrigen Eingriff in das Allgemeine Persönlichkeitsrecht darstellen, auch wenn es sich um keine Schmähkritik oder Formalbeleidigung handelt.
- Es liegt dann sowohl eine (zivilrechtliche) Persönlichkeitsrechtsverletzung als auch eine strafbare Handlung vor.
- Es lohnt sich für die Betroffenen von Hasskriminalität, sich gegen Rufschädigung im Internet zur Wehr zu setzen!
RA Norman Buse, LL.M. (Medienrecht & IP):
„Es ist zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht ein Signal gegen Hate-Speech gesetzt und endlich mal wieder die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen gestärkt hat. Die Vorgaben aus dieser Entscheidungen haben die Instanzgerichte nun in anderen Fällen zu beachten und sorgfältig in ihre Abwägungsentscheidung einzustellen.“
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